Bist du eigentlich behindert?!

von Adrian
26. Oktober 2022
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Sind wir doch mal ehrlich: Jede:r von uns hat schon mal ein Wort oder einen Satz rausgehauen, der uns im Nachhinein unangenehm war. Ob im Streit, im Überschwang eines angetrunkenen Stadionbesuchs oder wenn man sich den Zeh an der Bettkante stößt - wenn wir nicht die Kontrolle über unseren Sprechapparat zu haben scheinen, rutschen uns unschöne Worte heraus. Aber: Warum sind Begriffe wie "behindert", "Spasti" oder "Mongo" überhaupt Teil des Repertoires an Beleidigungen bei vielen Menschen? Und was können wir gemeinsam dagegen tun?

Aus Berührungsangst wird schnell Beleidigung

Dazu müssen wir zunächst einen Schritt zurück gehen und uns anschauen, warum solche Begriffe überhaupt als Beleidigung verwendet werden können. Viele Menschen haben in ihrem Alltag wenige Berührpunkte mit Behinderung, beziehungsweise mit Menschen mit Behinderung. Krankheiten und Sinneseinschränkungen werden so zu einer Art unheimlichen Etwas, mit dem sie möglichst wenig zu tun haben möchten. Das Resultat ist der Drang zu sprachlicher Abgrenzung, in vielen Fällen dann in Form einer Beleidigung. Wer einen anderen Menschen, unabhängig davon ob diese Person wirklich eine Behinderung hat oder nicht, als behindert bezeichnet und dies mit einer abwertenden Haltung tut, spricht dem Gegenüber in letzter Konsequenz das Recht ab, auf Augenhöhe zu kommunizieren. Nach dem gleichen Wirkprinzip wie bei rassistischen und sexistischen Äußerungen wird auch bei ableistischen Aussagen immer ein Stück weit das Menschsein des Angesprochenen infrage gestellt. Der Mensch mit Behinderung wird so zum Behinderten; und in einer kleinen Äußerung wird ein gigantisch großes gesellschaftliches Problem deutlich.

Ableismus

Der Begriff Ableismus im Deutschen leitet sich vom englischen Ableism ab. Wortursprung ist das Verb „to be able“, übersetzt „zu etwas fähig sein“. Der ursprünglich durch eine Bewegung von Menschen mit Behinderung in den USA, dem Disability Rights Movement, entstandene Begriff bezeichnet ein Verhalten, das Menschen auf ihre körperliche oder psychische Behinderung reduziert. Wer ableistisch handelt, schließt beispielsweise von der eingeschränkten Mobilität eines Menschen auf seine geistige Zurechnungsfähigkeit und wertet ihn auf diese Weise ab. Ableismus kann vieles sein, von alltäglichen Erscheinungen wie Beleidigungen, bis hin zu systematischer Ausgrenzung oder körperlicher Gewalt.

Ein Rollstuhl braucht keine Hilfe

Durch Verallgemeinerung entsteht der Eindruck, Menschen mit Behinderung ließen sich als Gruppe zusammenfassen und ihre Eigenschaften, Bedarfe und Positionen innerhalb der Gesellschaft gleichsetzen. Das Prinzip „Kennst du einen, kennst du alle“ kann dabei enormen Schaden anrichten, und das nicht nur kommunikativ. Formulierungen wie „Mensch mit Behinderung“ oder „Mensch mit eingeschränkter Mobilität“ stellen den Menschen und sein Recht und seinen Anspruch auf vielfältige und individuelle Lebens- und Persönlichkeitsentfaltung in den Vordergrund. Aus diesem Grund haben wir uns in FairWeg, genau wie etwa die Aktion Mensch oder die Online-Plattform leidmedien.de dazu entschlossen, nur Begriffe dieser Art zu verwenden. Noch schlimmer zeigen sich in diesem Zusammenhang Formulierungen, die einem im deutschen Alltag ganz selbstverständlich um die Ohren gehauen werden: Eine Bekannte, die etwa beim Zugfahren auf einen Rollstuhl angewiesen ist, erzählte mir vor einiger Zeit, dass bei der Deutschen Bahn intern des Öfteren die Aussage getroffen wird „Hinten am Gleis braucht ein Rollstuhl Hilfe“ – wenn nicht vom Rollstuhl aus Metall und Plastik, sondern vom Menschen aus Fleisch und Blut die Rede ist. Solche Aussagen sind herabwürdigend und beleidigend, egal wie man es dreht und wendet.

Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!

Als Rollstuhlfahrerin oder Rollstuhlfahrer ist der Besuch eines Festivals schon lange keine Seltenheit mehr. Traditionelle Festivals wie das Haldern Pop, Wacken oder Szegit-Festival stellen sich immer mehr darauf ein. Bei Wheelmap.org gibt es zudem einen kleinen Leitfaden "Mit dem Rollstuhl aufs Festival" : http://wheelmap.org/mit-dem-rollstuhl-aufs-festival-adinas-erfahrungen-tipps/ - Mehrere Rollstuhlfahrer beim Sziget-Festival (Budapest/Ungarn) auf der Rollstuhl-Tribüne zum Auftritt von SEEED

Während solche Beispiele (hoffentlich) auch bei vielen Menschen auf dem Bahnsteig für Ablehnung sorgen, sind ableistische oder zumindest grenzwertige Begriffe oder Aussagen über Menschen mit Behinderung im alltäglichen Sprachgebrauch sehr gängig und wirken damit fast selbstverständlich. Wenn jemand „an den Rollstuhl gefesselt“ ist, klingt das eher nach einer Entführung, als nach der Möglichkeit durch ein technisches Hilfsmittel am gesellschaftlichen Leben teilnehmen zu können. Wer ein „Pflegefall“ ist, wird einzig und allein dadurch charakterisiert, dass er oder sie von jemand anderen („gesunden“) in gewissen Situationen Assistenz benötigt; und dabei ein Fall von vielen ist, womit wir wieder beim Thema Verallgemeinerung wären. Wer solche Formulierungen benutzt ist selbstverständlich kein schlechter Mensch und auch nicht an sich behindertenfeindlich. Es geht aber mit aller Ernsthaftigkeit darum, über solche weit verbreiteten Aussagen nachzudenken, sie mit dem Wissen über die Sache zu bewerten und im Zweifelsfall Alternativen zu finden. Eine tolle Übersicht mit einigen gängigen Sätzen und Bezeichnungen hat leidmedien.de 2019 in ihrem Leidfaden zusammengestellt, den ihr hier abrufen könnt.

Woher kommen diese Begriffe eigentlich?

Oft weiß man gar nicht so genau, wovon sich bestimmte Begriffe oder als Beleidigung genutzte Wörter ableiten. Deshalb hier ein kleiner Einblick. All diese Begriffe sind veraltet, beleidigend und ausgrenzend und sollten weder als Beleidigung, noch in irgendeiner anderen Form im alltäglichen Sprachgebrauch verwendet werden.

Spasti“ leitet sich vom medizinischen Begriff Spastik für die Verhärtung und Steifheit von Muskeln, die Bewegungen, Körperhaltung und Gleichgewicht erschweren, ab. Früher wurden Menschen mit Spastiken als „Spastiker:innen“ bezeichnet. Heute werden Menschen mit diesem Krankheitsbild nach der Cerebralparese meist als Cerebralparetiker:in bezeichnet.

Mongo“ leitet sich von der Bezeichnung für Trisomie 21 ab, die der britische Arzt und Apotheker John Langdon Down 1866 in seiner ersten umfassenden Bezeichnung für das Krankheitsbild einführte: Mongolian idiocy (mongoloide Idiotie). Der Begriff wird bereits seit den 1960er-Jahren nicht mehr verwendet, da er nicht nur medizinisch falsch, sondern in seinem Ursprung auch rassistisch ist. Die gängige Variante heute ist „Mensch mit Trisomie 21“.

Handicap“ als Bezeichnung für eine Behinderung leitet sich vom alten englischen Tausch-Spiel „Hand-in-Cap“ ab, bei dem zwei Personen einen Tauschhandel vollziehen wollen, eine Seite aber stets ‚weniger in der Hand‘ hat – dieser Begriff wurde dann auf den Pferderennsport übertragen, in dem Pferde früher Gewichte angehängt bekamen, damit alle Teilnehmenden die gleichen Ausgangschancen hatten. Anfang des 20. Jahrhunderts wandelte sich der Begriff dann zu einer Bezeichnung für Behinderung.

Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht

Popkultur Festival Berlin 2018 ++ am 21.08.2019 in Berlin (Berlin). (c) Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de

Übrigens geht es in Sachen nicht-inklusiver Sprache gar nicht zwingend immer um Negatives, um Abwertendes und Ausgrenzendes. Wie in vielen anderen Bereichen der alltäglichen Kommunikation kann auch übertriebene oder fehlplatzierte Positivität schnell problematisch werden. Wer davon spricht, dass Menschen mit Behinderung ihr Leben „trotzdem meistern“, reduziert nicht nur durch das Herausstellen der über allem schwebenden Behinderung, sondern verbesondert auch. Eine Lehramtsstudierende im Rollstuhl beispielsweise studiert einfach nur Erdkunde und Deutsch – sie meistert die Fächer nicht, zumindest nicht mehr oder weniger als ihre Kommiliton:innen, die vielleicht nicht im Alltag mit dem Rollstuhl unterwegs sind. Und auch verniedlichende oder infantilisierende (verkindlichende) Begriffe wie „Downie“ für Menschen mit Trisomie 21 gehören auf den Sprachfriedhof: Zum einen, weil in diesem konkreten Beispiel erneut das Krankheitsbild mit der Person gleichgesetzt wird, zum anderen, weil auch Menschen mit Trisomie 21 das gleiche Recht auf eine Behandlung als erwachsene Person haben wie alle anderen. Also: Es kann im wahrsten Sinne des Wortes schnell zu viel des Guten sein.

Unter dem Strich sind also vor allem zwei Dinge sicher: Zum einen hat Sprache eine enorme Macht, die sowohl Gutes als auch Schlechtes in einer Gesellschaft in Bewegung setzen kann. Die Begriffe, die wir dafür benutzen, um über Behinderung zu sprechen, bergen immer Sprengstoff und zugleich das Potential, gegen Tabus vorzugehen und so in den offenen Diskurs zu kommen. Denn, und das ist die zweite Gewissheit, wir müssen mehr über Menschen mit Behinderung und ihre Situation innerhalb der Gesellschaft, etwa auf Veranstaltungen sprechen. Nur so kann sich etwas ändern und gemeinsam etwas verändert werden. Doch die Art und Weise muss sich dabei dringend ändern – und jede:r von uns kann seinen Teil beitragen.

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